Grobe Verkehrsegelverletzung - oder doch nur eine einfache?

Im Jahre 2017 gab es in der Schweiz rund 23‘000 Verurteilungen wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln. Ob eine grobe oder nur eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt, ist nicht immer einfach festzustellen. In der Rechtspraxis besteht allerdings die Tendenz, dass oft allzu schnell von einer groben Verkehrsregelverletzung ausgegangen wird.

 

Für die Annahme einer groben Verkehrsregelverletzung muss in objektiver Hinsicht (objektiver Tatbestand) der Beschuldigte eine wichtige Verkehrsvorschrift in gravierender Weise missachtet haben, wobei sich zuerst die Frage stellt, was eine wichtige Verkehrsvorschrift denn eigentlich ist. Diesbezüglich wird die Auffassung vertreten, dass eine grundlegende Verkehrsregel eine Vorschrift ist, die beispielsweise das Beherrschen des Fahrzeuges, die Gewährung des Vortrittsrechts, die Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit, das Einhalten ausreichender Abstände zwischen den Fahrzeugen, die Beachtung der Lichtsignale und dgl. regelt. Als Faustregel gilt, dass alle Verkehrsregeln wichtig und grundlegend sind, soweit sie der Verkehrssicherheit dienen. Bei einem Verstoss gegen eine wichtige Verkehrsregel, muss diese zudem objektiv grob, d.h. in schwerer Weise missachtet worden sein. Objektiv grob ist die Verletzung einer Verkehrsvorschrift dann, wenn der Verstoss im Einzelfall nach den konkreten Umständen als schwerwiegend bezeichnet werden muss. Dies ist dann der Fall, wenn eine wichtige Verkehrsvorschrift in "gravierender Weise" betroffen ist.

 

Zur Abklärung des objektiven Tatbestandes muss auch abgeklärt werden, ob sich der Fahrzeuglenker tatsächlich rücksichtslos oder sonst schwerwiegend regelwidrig verhalten hat (subjektive Seite des objektiven Tatbestandes). Diese Frage kann nur dann bejaht werden, wenn der Fahrzeuglenker (objektiv beurteilt), elementarste Sorgfaltspflichten missachtet hat.

 

Werden die beiden oben erwähnten Kriterien (Missachtung einer wichtigen Verkehrsvorschrift sowie rücksichtsloses oder sonst wie schwerwiegend regelwidriges Verhalten) mit ja beantwortet, ist das erste Merkmal der groben Verkehrsregelverletzung erfüllt.

 

Allerdings muss zudem auch das zweite Merkmal, nämlich die Hervorrufung oder Inkaufnahme einer ernstlichen Gefährdung für die Sicherheit anderer erfüllt sein, damit der ganze objektive Tatbestand erfüllt ist. Die Rechtsprechung bejaht das Vorliegen einer ernstlichen Gefahr für die Sicherheit anderer dann, wenn eine erhöhte abstrakte Gefährdung vorliegt. Eine solche liegt vor, wenn durch die widerrechtliche Fahrweise eine naheliegende Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung geschaffen wurde. Dabei muss die Fahrweise typischerweise besonders geeignet sein, Verletzungen von Leib und Leben herbeizuführen. Die Fahrweise muss also erfahrungsgemäss oft zu solchen Verletzungen führen. Zu prüfen ist damit die Frage, wie nahe ein Erfolgseintritt (Verletzung von Leib und Leben) liegt und ob mit einer solchen zu rechnen ist. Darüber hinaus ist zu prüfen, wie gravierend die Folgen im Falle des Erfolgseintritts sind bzw. wären. In der Praxis ist es beispielsweise auch möglich, dass bei sehr naheliegenden erhöhten abstrakten Gefährdungen lediglich eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt, zumal die Verletzungsfolgen im Falle eines Erfolgseintritts im konkreten Fall nur geringfügig wären. Dies kann beispielsweise auf eine Kollision mit äusserst geringer Geschwindigkeit zutreffen.

 

Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass der objektive Tatbestand der groben Verkehrsregelverletzung nur dann erfüllt ist, wenn erstens der Beschuldigte eine wichtige Verkehrsvorschrift in gravierender Weise missachtet, zweitens ein rücksichtsloses oder sonst schwer regelwidriges Verhalten an den Tag gelegt und drittens eine ernstliche Gefährdung für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat. 

 

Zur Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen (subjektiver Tatbestand) muss der Beschuldigte sowohl die grobe Verkehrsregelverletzung als auch die Schaffung der Gefahr zumindest in Kauf nehmen und damit grundlegende Sorgfaltspflichten missachtet haben. Der Fahrzeuglenker muss sich damit der konkreten oder auch nur der allgemeinen Gefährlichkeit seiner Fahrweise bewusst gewesen sein oder ein sonst bedenkenloses Verhalten gegenüber fremden Rechtsgütern (wie Leib, Leben und Sachen) gezeigt haben. In erster Linie muss der Beschuldigte vorsätzlich oder auch bewusst grob fahrlässig gehandelt haben. Das Bundesgericht bejaht allerdings auch das Vorliegen einer groben Fahrlässigkeit, wenn der Beschuldigte die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer pflichtwidrig gar nicht in Betracht gezogen hat und damit unbewusst fahrlässig gehandelt hat. Grobe Fahrlässigkeit kann damit auch dann bejaht werden, wenn das Nichtbedenken der Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auf Rücksichtslosigkeit beruht und daher besonders verwerflich ist.

 

Im konkreten Fall muss damit bei Fahrlässigkeit geprüft werden, ob der Fahrzeuglenker gegen elementarste Sorgfaltspflichten verstossen hat oder ob dem Beschuldigten im konkreten Fall eine Rücksichtslosigkeit vorgeworfen werden kann.

 

Verursacht der Fahrzeuglenker damit wegen geringfügiger Unaufmerksamkeit oder kleinerer Nachlässigkeit einen schweren Unfall mit Verletzten und grossem Sachschaden, muss nicht (zwingend) von einer groben Verkehrsregelverletzung ausgegangen werden.

 

Das Bundesgericht hat im Übrigen in einem neusten Fall (BGE 142 IV 137) entschieden, dass es sich beim Rasertatbestand nicht bei jeder Überschreitung des Tempolimits effektiv um eine qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung handeln müsse (Überschreitung um mindestens 40 km/h bei einer Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, um mindestens 50 km/h bei höchstens 50 km/h, um mindestens 60 km/h bei höchstens 80 km/h sowie mindestens 80 km/h bei mehr als 80 km/h). Der Lenker des Fahrzeuges müsse auch verschuldensmässig den Straftatbestand erfüllen. Lägen jedoch besondere Umstände vor, so habe der Richter die Erfüllung der subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall gesondert zu prüfen. Neu besteht damit keine unwiderlegbare Gesetzesvermutung mehr (gegenteilig noch 1C-397/2014), dass bei Überschreitung der Geschwindigkeit im vorerwähnten Mindestmass eine grobe Verkehrsregelverletzung vorliegt.

 

Auch bei Tempoüberschreitungen in der Dreissiger-Zone hat das Bundesgericht die Aargauer Oberstaatsanwaltschaft zurückgepfiffen, welche bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung von 21 km/h in der Dreissiger-Zone eine grobe Verkehrsverletzung erblickte. Das Bundesgericht führte aus, dass für eine grobe Widerhandlung eine Tempo-Überschreitung von 25 km/h nötig sei, so wie bei Tempo 50 generell. Diese neue Rechtsprechung steht im Widerspruch zu den Empfehlungen der schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz (SSK), wonach eine Überschreitung ab 20 km/h in einer Dreissiger-Zone als grobe Verletzung der Verkehrsregeln geahndet werden soll.

 

Autor:

lic.iur. Urban N. Friedrich

Rechtsanwalt in Kreuzlingen und Präsident der Rekurskommission für Strassenverkehrssachen des Kantons Thurgau